Treue und/oder offene Beziehung: ist Polyamorie die Lösung?
von Sitari
Was ist überhaupt „Treue“ und was ist eine „offene Beziehung“? Wozu brauche ich Treue und wozu brauche ich eine offene Beziehung? Kann ich überhaupt das eine und/oder das andere leben?
Bin ich emotional in der Lage dazu?
Oder fühle ich mich überfordert und stehe immer wieder oder permanent am Rande des Nervenzusammenbruchs, weil sich mein Partner gerne nach außen orientiert und diese Haltung bei mir Zweifel, Verlustängste und Verzweiflung auflöst?
Bzw., pflege ich heimliche Fluchtpläne aus der Beziehung, die mich einengt, um meinen Drang nach Offenheit endlich in die Tat umzusetzen?
Oder, ich lebe Treue oder offene Beziehung, bin aber emotional von mir selbst abgeschnitten, nicht wirklich in Kontakt, weder mit mir selbst noch mit meinem Partner, ich bin zu, dicht, weil es für mich - das eine oder das andere- nicht wirklich stimmt und ich nur so tue als ob... und noch schlimmer, ich merke es eventuell nicht mal, weil mein Herz sowieso schon lange aufgegeben hat, in Kontakt mit mir zu sein und ich gar keine klare Wahrnehmung meines wirklichen Befindens habe?
Viel eher beschwere ich mich vielleicht, daß mein Leben ein wenig zu langweilig, flach, emotionslos...unlebendig... irgendwie nicht mehr so spannend geworden ist?
Es gibt kaum ein anderes Thema, das so viele Fragen aufwirft und das im Grunde genommen im Laufe eines Lebens uns alle Menschen früh oder spät beschäftigen wird, unabhängig davon, wie unsere Einstellung zu diesem Thema ist und was wir für eine Lösung für dieses Thema gefunden oder nicht gefunden haben.
Ich bin selber betroffen gewesen, sozusagen gezwungenermaßen. Ich hätte mich nämlich allzu gerne vor dem Thema gedrückt. Das Leben hat es aber anders mit mir gemeint und so beschäftige ich mich seit inzwischen mehr als 20 Jahren äußerst intensiv mit dieser zwar faszinierenden und doch furchterregenden Frage:
Wie läßt sich der Konflikt lösen, der uns Menschen zwischen Bedürfnis und Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit und Sicherheit einerseits und Wunsch nach emotionaler und sexueller Freiheit andererseits hin- und herzieht?
Wie kann ich mein Bedürfnis nach tiefer Intimität und Verbundenheit erleben und gleichzeitig den Impulsen folgen, die mich lebendig fühlen lassen, bzw. dies meinem Partner zugestehen, ohne meine innere Ruhe zu verlieren?
Der Konflikt scheint unlösbar zu sein.
Beide Bedürfnisse gehören sozusagen zur „Grundausstattung“ des menschlichen Daseins. Bei dem einen ist mehr der eine Aspekt vordergründig, bei dem anderen der andere. Oder aber wechselt bei der gleichen Person der Wunsch im Laufe eines Lebens im Zusammenhang mit der eigenen Entwicklung und Selbsterkenntnis.
Kurze Anmerkung zur offenen Beziehung: darunter verstehe ich im allgemeinen das Modell einer Zweierbeziehung, wo ein Partner - im besten Fall beide - emotionale und/oder sexuelle Kontakte außerhalb ihrer Beziehung pflegen. Dies geschieht allerdings oft nicht wirklich „offen“, sondern sehr versteckt und verheimlicht, bis es irgendwann rausplatzt... In selteneren Fällen erzählen die Betroffenen etwas über ihre Außenkontakte, aber das ist in der Regel nicht der Fall.
Wenn ich mich dem Modell der Treue verpflichte (Treue im Sinne von Hingabe an eine emotionale und sexuelle Zweisamkeit, die keine weiteren Einflüße und Einmischungen von außen duldet) riskiere ich die Erstickung und die komplette emotionale Verschmelzung mit meinem Partner, die irgendwann es mir unmöglich macht, mich selbst als Individuum wahrzunehmen. Nur durch meinen Partner erhalte ich eine Daseinsberechtigung.
Nach dem Motto: „Ich bin, weil Du mich brauchst“.
Das ist übrigens auch eine Umformulierung dessen, was wir Menschen normalerweise als „Liebe“ beschreiben: ich brauche Dich, Du bist mir wichtig, ich kann mit Dir ich selbst sein, ich spiegele mich selbst in Deinen Augen usw.usf....
All dies sind wunderschöne „Liebeserklärungen“, die aber oft nur eins bedeuten:
ich liebe Dich, weil ich Dich brauche und weil ich in Dir etwas sehe, was mir gut tut, etwas, das genau das ergänzt, was mir so bisher gefehlt hat und was Du nun mir bitte schön ohne Bedingungen auch geben solltest... und, noch wichtiger, für immer, jedenfalls solange ich es mir von Dir wünsche, damit ich mich nicht mehr so einsam fühle auf dieser Welt...
Ist das nun wirklich „Liebe“? Oder nicht vielmehr eine Art Handel, bei dem bestimmte seelische und körperliche Qualitäten und Fertigkeiten ausgetauscht werden?
Selbstverständlich ist es für das kleine große Ego sehr schmeichelhaft sich so „geliebt“ (=gebraucht) zu fühlen. Dies gibt automatisch und auf einer erst einmal sehr angenehmen Art und Weise das Gefühl, daß mein Leben einen Sinn hat. Daß es wichtig ist, daß es mich gibt, weil mich jemand braucht. Auf einmal kann ich dadurch den Zustand der Einsamkeit hinter mir lassen, denn da draußen ist jemand, der mich braucht (= liebt)... Ich muß mich erst einmal mit meiner Einsamkeit nicht mehr beschäftigen, weil ich jemanden „habe“, der mich liebt.
Und somit habe ich eine elegante Lösung für meine Einsamkeit gefunden, mit der ich mich ungerne beschäftige, bis sie aber bei der nächstbesten Gelegenheit plötzlich wieder auftaucht und mich doch mit ihrer Präsenz konfrontiert. Was nun?
Kaum jemand ist in der Lage, emotional (und sexuell) völlig autark zu leben (ohne mittel- bis schwerwiegende Konsequenzen im Kauf zu nehmen). Das soll auch nicht der Sinne der Sache sein.
Und trotzdem, je mehr wir uns der Tatsache stellen, daß wir dieser Einsamkeit tatsächlich ziemlich unweigerlich ausgeliefert sind und wir aber lernen, anders damit umzugehen, anstatt unseren Partner als Lösung und Überwindung unserer Einsamkeit zu deklarieren, desto größer ist die Chance, daß wir emotional mit dem Partner nicht komplett verschmelzen. Das hat widerum eine ganz einfache Konsequenz, nämlich die, daß wir die sogenannte Treue nicht mehr so brauchen, wie wir früher mal eventuell taten. Das bedeutet auch, daß wir einen inneren Raum entdecken, wo wir uns selbst fühlen, ohne daß jemand anders uns ständig spiegelt und rückversichert. Wo Einflüße von außen eventuell nicht mehr so bedrohlich erscheinen, da wir gelernt haben, mit unserer Einsamkeit besser und allein klarzukommen. Ich habe durch die direkte Konfrontation Selbstheilungsprozeße in Gang gesetzt, die meine sonstigen inneren Ressourcen zum Vorschein gebracht haben. Ich fühle mich nicht mehr komplett ausgeliefert und verlassen. Die Verlustängste werden milder. Ich habe mich selbst gesucht und mich auch gefunden. Das Gefühl des Alleinseins läßt nach und an seiner Stelle taucht die Erkenntnis das ich all-ein, mit dem ganzen Universum und vor allem mit mir selbst verbunden bin.
Und aus diesem Standpunkt der angenommenen Einsamkeit kann ich mich meinem Partner anders zuwenden. Er ist auf einmal kein „Lückenfüller“ mehr für meine brüchigen Baustellen, sondern ein Lebenspartner, mit dem ich Erfahrungen und Erlebnisse teilen kann, ohne mich komplett von ihm emotional abhängig zu machen. Und diese neue innere Position gegenüber meiner eigenen Einsamkeit erlaubt mir eine viel wesentlichere Erfahrung, nämlich die der wahrhaftigen Herzoffenheit ( = bedingungslose Liebe). Ich spüre, vielleicht nur für ein paar glücksselige Augenblicke, wie sich mein Herz in der Tat öffnet, ohne daß ich dafür von jemandem etwas zu bekommen brauche. Ich bin einfach da und ein Gefühl des Strömens setzt ein. Und auf einmal ist keine Angst vor Einsamkeit mehr da.
Aus dieser Perspektive wird dann u.U. möglich das, was ich unter Polyamorie verstehe.
Das heißt, ich kann gleichzeitig mein Herz (und meinen Körper) für verschiedene Menschen öffnen und kann dann zu mir selbst zurückkehren und mich selbst für mich fühlen und sein. Ich kann meine Partner immer wieder gehen lassen, ohne daß ich mich verlassen zu fühlen brauche. Und viel mehr, ich kann mein Herz und meine Lust spüren, wenn (m)ein Partner bei mir ist.
Das dies kein einfacher Weg ist, ist selbstredend. Aber, wenn ich am Ende dieses Weges mich selbst finde, die sonst so allmächtigen Ängste etwas sanfter werden und ich mich diesen Ängsten mit einer größeren Gelassenheit stellen kann, dann hat sich der Weg für mich gelohnt.
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