Tantra: Ein Weg zwischen Selbsterfahrung, Therapie und Spiritualität
von Sitari
In diesem Artikel versuche ich eine Antwort auf die Frage zu formulieren, was Tantra sei. Ich stelle die Hypothese auf, dass Tantra ein Weg zwischen Selbsterfahrung, Therapie und Spiritualität ist.
Die meisten Menschen, die sich der Welt des Tantra nähern, tun dies aus einem oft zaghaften, schüchternen und doch mutigen Impuls heraus, einen neuen Weg auszuprobieren, sich selbst näher zu kommen, bzw. anderen Menschen auf einer intensiveren und authentischeren Art begegnen zu wollen, als sie es bisher getan haben und zuletzt auch um eine neue Daseins- und Bewusstseinsdimension zu erforschen und zu erfahren. Und dies eben nicht rein geistig wie andere (spirituellen und/oder therapeutischen) Selbstfindungswege vorschlagen und praktizieren, sondern mit Leib und Seele, d.h. mit Gefühlen, Emotionen und Sinnlichkeit bzw. Körperlichkeit. Gerade der letzte Punkt - die Sinnlichkeit - die im Tantra zugelassen und willkommen geheißen wird, macht den wesentlichen Unterschied zwischen allen anderen bekannten und weniger bekannten Wegen der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung und dem Tantra.
Tantra & Yoga - Spiritualität & Sexualität
Die Suche nach dem Ganzheitlichen
Wir leben heute in einer Epoche, wo sich die Suche nach dem "Ganzheitlichen" fast zu einer Mode entwickelt hat, und viele Menschen suchen nach Produkten oder Erfahrungen, die dies versprechen. In diesem Sinne kommt die Grundidee des Tantra diesem Bedürfnis nach ganzheitlichem Erleben und Erfahren entgegen, weil Tantra in seiner Grundessenz eine ganzheitliche Vision des Menschen hat. Dabei wird kein Aspekt des menschlichen Lebens ausgeschlossen, da davon ausgegangen wird, dass wir durch Präsenz und bewusstes Erfahren jeder Handlung, Geistesbewegung, Wunsch und Verlangen zu tiefgreifenden Erkenntnissen über uns selbst und das Wesen und den Sinn unserer Existenz kommen können.*
Interessanterweise herrschen unter denjenigen, die sich der Welt des Tantra nähern, unterschiedliche Meinungen darüber vor, was Tantra nun sei: Selbsterfahrung oder Therapie, eine mehr oder weniger angenehme sinnliche Erfahrung, die zeitlich auf die Dauer des Tantra-Workshops bzw. der Tantramassage begrenzt ist oder ein sinnlich-emotionaler Prozess, der etwas tiefer eingreift und einiges mehr in Gang setzt, als "nur" angenehme und lustvolle Gefühle?
Ich möchte an dieser Stelle die scheinbar gegensätzlichen Positionen näher betrachten.
Selbsterfahrung, Therapie oder Spiritualität?
Auf der einen Seite also die Auffassung, dass Tantra "nur" eine - hauptsächlich auf körperlichem Kontakt mit anderen Menschen basierende - sinnliche Selbsterfahrung ist. Konsequenterweise vermeidet diese Haltung praktisch jegliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung persönlicher Themen, die beim Erleben einer solchen sinnlichen Erfahrung auftauchen könnten. Diese "Vermeidung" wird allerdings mehr oder weniger geschickt - quasi unterschwellig - und mit einer gewissen Eleganz angeleitet oft unter dem unausgesprochenen Motto: "Wir (=Tantriker) sind alle ganz offen und lieb", "Entspanne Dich, über Sinnlichkeit läßt sich alles lösen" o.ä. Ich habe selber genug Gruppen miterlebt, wobei so eine Art Druck im Raum entstand, "irgendwie" alles mitzumachen, was die Leiter*innen vorschlugen, um nicht als "nicht offen" da zu stehen, weil dies gleich wie doof oder unreif gesehen wurde. Ohne dass sich jemand hinterher darum gekümmert hätte, was für Retraumatisierungen nun in diesem Menschen, der unter dem Druck nicht "nein" sagen konnte, provoziert wurden.
Auf der anderen Seite zeigt sich die tantrische Erfahrung als ein sinnliches Erleben mit seelischem Tiefgang, wodurch möglicherweise alte Wunden und Blockaden wieder aktiviert oder überhaupt bewusst werden können, so sehr dass sie nicht einfach weggestreichelt werden können und wollen ... So ähnlich wie in jeder anderen körperorientierten Therapie durch die Aktivierung des Körpers es auch zu seelischen Prozessen kommen kann und dies auch letztlich willkommen ist, weil ein Mensch dadurch zu neuen Erkenntnissen und zu passenderen und erwünschteren Erlebnis- und Verhaltensmustern kommen kann. In diesem Sinne bietet die tantrische Erfahrung ein breites Spektrum an Möglichkeiten der sinnlichen Begegnung, die ganz intensive tiefgreifende Prozesse in Gang setzen können, wenn sie mit einer gewissen Sensibilität und therapeutischer Kompetenz angeleitet werden und die behilflich sein können, um mit seelischen und körperlichen Verletzungen und Traumatisierungen Frieden zu schließen.
Für andere noch ist dagegen "nur" der geistige Aspekt des Tantra wichtig: keine Körperlichkeit, keine Sinnlichkeit, Askese, nur stille Meditationen und Visualisierungen verschiedener Gottheiten, die für uns die Auseinandersetzung mit dem Sinnlichen übernehmen sollen, so dass wir uns nur mit der geistigen Welt beschäftigen können... Darüber möchte ich mich nicht weiter äußern, da das Ausschließen auch nur eines einzelnen Aspekts des menschlichen Daseins auf Erden ein Widerspruch in sich ist, wenn wir von Tantra reden.
Und nun? Was ist also Tantra? Was "macht" man beim Tantra?
Viele, die noch nicht direkten Kontakt mit Tantra gehabt haben, fragen uns immer wieder mit großen Augen und noch größeren Ohren... Was ist das? Was passiert in einer Tantra-Gruppe? Worum geht es denn?
Nach vielen Jahren Gruppenleitung bei Tantra-Workshops und Einzeltrainings komme ich immer mehr zu dem Schluss, dass Tantra gar nichts besonderes ist. Eigentlich. Tantra ist einfach das, was bereits da ist. Vom Anfang an. Bei uns allen. Quasi ein Geburtsrecht und ein Potenzial, das uns allen ohne weitere Bedingungen mitgegeben wird. Ein Geschenk des Lebens. Das Leben selbst, das sich selbst erkennen und feiern will. Zu dieser Erkenntnis zu kommen, bedarf allerdings einiges an innerer "Aufräumen-Arbeit", damit diese schlichte, einfache und allumfassende Wahrheit zum Vorschein kommen kann.
Tantra ist die Wiederentdeckung der (sexuellen) Lebensenergie, die uns am Leben hält, uns bewegt, berührt und motiviert weiter zu gehen und uns selbst zu realisieren. Es ist die Fähigkeit in authentischen Kontakt mit anderen Menschen zu treten und sich dem Fluss des Moments hinzugeben und staunend zu beobachten, was alles passieren kann, wenn ich z.B. meinem Körper statt meinem Kopf die Regie überlasse oder aber meine Grenzen klar und deutlich spüre, so dass ich Kontakte, die für mich nicht erbaulich sind mit gutem Grund vermeiden kann. Es ist die gesunde, natürliche, geistige, körperliche und emotionale Flexibilität eines Menschen, der dadurch seine Kraft und Stabilität entfaltet und lebt. Und es ist die Stille, aus der heraus ein neues Gefühl für mich selbst entstehen kann, eine neue Bezogenheit zu dem Zeitkontinuum aus Emotionen, Gefühlen und Empfindungen, die wir "Ich" nennen.
Im Grunde genommen nichts wirklich Neues, oder doch? Für manche ist oft der Zugang zu diesen impliziten Fähigkeiten, die wir eigentlich von Geburt an besitzen, aus den verschiedensten Gründen versperrt geblieben oder nur teilweise zugänglich, so dass sich z.B. die Lebensenergie eher wie ein etwas vertrockneter Bach als wie ein lebendiger Strom anfühlt. Und der Kontakt zu anderen Menschen fühlt sich reduziert, schwierig, verstrickt an ... oft ist er unbefriedigend und frustrierend. Zuletzt die Stille, die wir meistens fürchten, weil sie uns unvertraut ist und weil sie uns vielleicht zum ersten Mal wirklich mit uns selbst - und entsprechend mit unseren ganzen unverarbeiteten Themen - in Kontakt bringen könnte. Deshalb vermeiden wir sie meistens, indem wir unsere Tage mit Terminen und Aufgaben durchplanen und vollstopfen, so dass wir sie durch die permanente - oft selbstproduzierte - Geräuschkulisse um uns herum kaum noch bewusst wahrnehmen.
Durch verschiedene Prozesse, Übungen, Rituale werden diese Themen und viele andere ernsthaft und tief, aber auch verspielt, dynamisch und sinnlich, immer wieder erforscht, ausprobiert und ausgelotet...
Diese Erlebnisse würde ich als Selbsterfahrung beschreiben: ich erfahre mich selbst, ich komme durch verschiedene Wege zu mir selbst zurück, ich lerne mich kennen, durch Selbstwahrnehmung und durch die Konfrontation (Kontakt) mit den anderen.
Solange dies einfach glatt läuft, bleibt es in meinen Augen auch ganz klar in diesem Bereich der Selbsterfahrung.
Meine Erfahrung
Meine eigene Erfahrung und das was ich über die Jahre immer wieder und bei den meisten Teilnehmer*innen in den Gruppen oder aber auch in den Einzeltrainings mitbekommen habe, zeigt mir, dass es eben nicht immer so glatt läuft. Das die "Wiederentdeckung" der eigenen Lebensenergie, der Versuch mit anderen in authentischen Kontakt zu treten, die Begegnung mit der Stille, in einem selbst nicht immer nur Freude und Lust erzeugt, sondern dass Ängste, Frustration, Widerstand, alte Verletzungen und emotionale Ausbrüche, Schmerz und Leid auch immer wieder eine Rolle spielen.
Was nun? Dann ist für mich der Moment erreicht, wo aus Selbsterfahrung ein therapeutischer Prozess wird. Wenn ich auf meinem Weg der Selbstfindung weiter möchte, muss (soll/darf?) ich mich mit diesen Ängsten und sonstigen Gefühlen konfrontieren und auseinandersetzen. Oder ich verzichte darauf, breche ab. Schaue weg. Ich verlasse die Gruppe, weil sie "nicht so ist, wie ich es mir vorgestellt habe"... "weil die anderen nicht so "weit" sind, "wie man selber ist" usw... An dieser Stelle ginge es tatsächlich darum, die Komfortzone zu verlassen, um weiter zu kommen. Es ist kein Muss. Aber eine wahrhaftige Option. Viele Teilnehmer*innne nehmen sie wahr und setzen sich mit sich selbst und den ungeklärten Anteilen in sich auseinander und machen weitere spannende Entdeckungen und Erfahrungen, andere verlassen die Gruppe und suchen nach dem nächsten Abenteuer, nach der nächsten Ablenkung.
Wenn ich diese Bürde auf mich nehme, und ich am Ball bleibe, anstatt wegzuschauen, dann treten mit der Zeit und mit viel Geduld die wahren Schätze des tantrischen Weges auf. Dann kommen Augenblicke, die sich in einem zeitlosen Raum bewegen können, wo ich einen Einblick in eine andere Realität gewinne, ein verändertes Bewusstsein in mir spüre, das mich die Dinge anders wahrnehmen lässt. Dann habe ich für mich über den Körper und seine Sinnlichkeit die Ebene der Spiritualität erreicht, wo ich in jeder Handlung, in jeder Geste, Wort und Gefühl einen vollkommenen Ausdruck meiner spirituellen Natur erkenne und genauso erkenne ich das göttliche Prinzip in meinem Gegenüber und in seiner individuellen Erscheinung. Und auf einmal ist eine ganz andere Schwingung im Raum. Ein absoluter absichtsloser Fluss von Menschlichkeit, Gefühlen, Wärme, Gedanken und Sinnlichkeit, ein endloses Kontinuum eingebettet in der nicht zu ergründenden Unendlichkeit.
Keine Hierarchie
Für mich stellen diese drei Ebenen - Selbsterfahrung, therapeutischer Prozess, Spiritualität - keine Hierarchie dar. Vielmehr sind sie immer gleichzeitig vorhanden, wie Bahnen, die meistens parallel verlaufen und die ab und zu jede für sich eine Art Umweg nehmen, um sich später wieder dem Hauptfluss hinzugeben. Gewisse "spirituelle" Erlebnisse können ganz am Anfang der tantrischen Erfahrung auftreten, danach können lange Zeiten der Auseinandersetzung mit persönlichen Themen auf der psychologischen Ebene kommen, deren Aufarbeitung den Weg für neue weiterführende spirituelle Erfahrungen öffnen kann. Zwischendurch können manche Tantra-Gruppen einfach schöne entspannte Momente der sinnlichen Selbsterfahrung schenken, ohne das sozusagen etwas "besonderes" passiert.
Und es ist auch nicht wichtig, wie lange jemand bereits "Erfahrung" mit Tantra hat. Diese Entfaltung des Bewusstseins lässt sich nicht im üblichen Sinn "zeitlich" messen. Manchmal gibt es eine zeitliche Relation, manchmal weniger. Alle Erfahrungen, die im Leben gemacht werden, können uns zur Selbstfindung führen, ohne dass wir "offiziell" Tantra-Kurse besucht haben. Insofern - wenn jemand behauptet "viel" Tantra-Erfahrung zu haben, weil er oder sie bereits ein paar Jahre Tantra-Kurse besucht bzw. Tantra-Massagen bekommen hat, sollte man zweimal hinhören und beobachten, was diese "Zeit" in diesem Menschen tatsächlich bewirkt hat. Weil letzten Endes Tantra nichts anderes ist, als unser Leben in allen seinen Erscheinungs- und Ausdrucksformen bewusst zu leben und daraus zu lernen, was wirklich wesentlich ist: ein stabiles flexibles Selbstbild zu entfalten, das sowohl mit sich selbst als auch mit den anderen weitgehend im Reinen ist und das dem Leben in jedem Wesen mit Offenheit, Rücksicht, Toleranz und Freude begegnet. Und zuletzt ein Selbst, das sein eigenes Wesen erkannt hat.
*(Siehe dazu "Das Buch der Geheimnisse" von Osho - 112 Meditationstechniken aus dem Vigyan Bhairav Tantra, die alle möglichen Lebenssituationen und Erfahrungen - ein paar davon haben tatsächlich auch mit sexuellem Erleben zu tun - als Sprungbrett für eine Vertiefung des Bewusstseins nutzen - und/oder "Begierde, Leidenschaft und Spiritualität" von Daniel Odier, wo das Verlangen - egal in welche Richtung - ebenfalls als zentrales Element und treibende Kraft gesehen wird, um in die Tiefe des Bewusstseins einzutauchen.)
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